Eine Stieffamilie im 17. Jahrhundert
Aus dem 17. Jahrhundert ist von den einfachen Dorfbewohnern im oberen Fricktal wenig bekannt ausser den Geburts- Sterbe- und Ehe Daten. Gelegentlich erhaschen wir aber trotzdem einen Blick auf das Leben von damals, zum Beispiel durch historische Quellen ausserhalb der Kirchenbücher. In diesem Artikel untersuchen wir Auszüge aus den Chorgerichtsmanualen und den Gerichtsakten und erfahren etwas über das Schicksal einer Stieffamilie in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Das Chorgericht und seine Chorgerichtsmanuale – ein Kontrollinstrument der Berner Obrigkeit
Ursprünglich war das Chorgericht 1) ein Sitten- oder Ehegericht. Nach der Reformation gerieten vermehrt auch weltliche Angelegenheiten in dessen Aufgabenbereich. Es entwickelte sich nun hauptsächlich zu einem wirksamen Kontrollinstrument für die Obrigkeit von Bern. Der Historiker Max Baumann erklärt dies wie folgt: „Die „gnädigen Herren“ wollten möglichst viele Lebensbereiche der Untertanen reglementieren. Die überlieferte mittelalterliche (und katholische) Fröhlichkeit und Lebenslust fand hier keinen Platz mehr“ 2).
Das Chorgericht trat regelmässig nach der Sonntagspredigt im Chor der Kirche zusammen, daher der Name Chorgericht. Das Gericht verhandelte die von den „Heimlichen“ gemeldeten Vergehen der Einwohner. Es ging vor allem um Verfehlungen wie Tanzen, Spielen, übermässiges Trinken, Fluchen, Streitereien und Schlägereien sowie nicht eingehaltene oder fehlende Eheversprechen. In schwerwiegenden Fällen wurden die ehrbaren Chorrichter und der Dorfpfarrer beaufsichtigt vom Obervogt von Schenkenberg, dem Vertreter der Berner Regierung. Die Verhandlungen, Verhöre und ausgesprochenen Bussen wurden vom Dorfpfarrer in den Chorgerichtsmanualen akribisch dokumentiert. Diese Aufzeichnungen gewähren aufschlussreiche Einblicke in das Privatleben der Leute in der Kirchgemeinde Bözen. Ein schönes Beispiel dafür ist die Heirat von Anna Heuberger.
Die Gerichtsakten der Gerichtssässen und Geschworenen - Ein Gericht für zivilrechtliche Angelegenheiten
Die Gerichtsmanuale bzw. die Effinger Gerichtsakten3) die 1668 einsetzen, enthalten reichhaltige Aufzeichnungen über Fertigungen (Verkäufe), Gültbriefe, Obligationen, Versteigerungen und Urteile bei Streitigkeiten. Die Gerichtsakten geben einen tiefen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse und vielfältigen wirtschaftlichen Verbindungen innerhalb der Dorfgemeinschaft.
Das Gericht bestand aus Gerichtssässen oder Geschworene, welche die drei Gemeinden Elfingen, Effingen und Bözen vertraten. Die Amtsinhaber waren ehrbare Bürger, die meistens der dörflichen Oberschicht angehörten und das Amt üblicherweise auf Lebenszeit innehatten. Den Vorsitz hatte der Untervogt, manchmal war auch der Obervogtes für das Amt Schenkenberg anwesend als oberster Richter.
Wie die Familie Amsler zum Beinamen "Beldi" gekommen ist
Gelegentlich enthalten diese beiden Quellen äusserst wertvolle genealogische Informationen und Erkenntnisse zur Lokalgeschichte. Dank den Protokollen des Pfarrers über die Verhandlungen im Chorgericht sowie den Aufzeichnungen des Amtsschreibers in den Gerichtsakten erfahren wir, warum mein Vorfahre Hans Amsler zu seinem Beinamen „Beldi“ kam, der über mehr als ein Jahrhundert erhalten bleiben sollte.
Hans Amsler (1652-1729)
Den Kirchenbüchern entnehmen wir, dass Hans Amsler 1652 geboren wurde und 1729 starb:

Am 4. Januar 1652 wurde den Eltern Uli Hoüwberger und Catrina Kuntz eine Tochter Susanna getauft, Taufzeugen waren Abraham Höuwberger und Anna Ott.
eodem die (Am gleichen Tag) wurde Hanss Amsler getauft, seine Eltern waren Hanss Amsler und Freni Brändli, Taufzeugen Hanss Hubeli und Freni Höwberger
Quelle: Bözen KI02, Taufen 1604-1685, Seite 125

Anno 1729.
Den 28. Juni: Morgens bym Ersten Zeichen Leütten verstarb der prestenhaffte Joggel Keller Zu Bözen in seinem wohl 60. Jahr alter an der Wassersucht.
Den 15. Februar: abendts starb dem Hans Schwartz ein 2. Jährig Töchterlein an dem Husten, namens Elsbeth
Den 20.ten Februar: starben dem Hans Weibel dem Ziegler zu Effigen sein flendes 4. Jährig Kindt an dem grasierenden Husten, names Babeli.
Den 16. Aprils: abendts gegen 9. Uhr starb zu meiner bestürtzung gantz unerwartet Elsy Rynicker des bauwen Schneider-Heirech tochter seines alters 28. Jahr, da es 2. Tag zevor noch aussgangen esgesehen.
Den 30. April: Starb der alte 77. Jährige Hans Amsler, sonst Bäldi – Hans genant von Alterschwachheit ohne Krankheit
Quelle: Bözen KI03, Totenrodel 1684-1750, Seite 125
Die Bemerkung „Bäldi“ wird für die nachfolgenden Generationen zum Beinamen dieser Amsler Familie. Dies zur Unterscheidung der verschiedenen Zweige der Amsler Familien, die damals in Bözen und in der Nachbargemeinde Effingen wohnhaft waren. Ein Zweig wird später als „Beldi Schuhmachers“ benannt, diese Bezeichnung blieb bis um ca. 1800 erhalten.
Eine überraschende Entdeckung
Erstmals um 1660 war in Bözen auch eine Familie Beldi ansässig. Das Geschlecht der Beldi stammt ursprünglich aus Rüfenach in der Kirchgemeinde Rein, und war vorher in Bözen unbekannt. Von 1660 bis 1667 taufen Uli Beldi und Freni Brändli 4 Kinder:

Zuvor taufen Johannes Amsler und Verena Brändli von 1649 bis 1657 zusammen sechs Kinder:

Auf den ersten Blick handelt es sich hier um zwei verschiedene Familien, Es gibt keinen Hinweis auf eine mögliche Verbindung zwischen Amsler und Beldi.
Hier hilft uns nun ganz unerwartet ein aufschlussreicher Eintrag vom 2. Januar 1677 in den Effinger Gerichtsprotokollen, Es handelt sich um einen Auskauf, der uns zeigt, wie das Schicksal die Familien Amsler und Beldi verband und wie Hans Amsler zum Übernamen "Bäldi Hans" kam:

Ausskauff
Diewylen Verena Brändli, des Ulli Bäldins sel. verlassne Wittib
zu Bötzen, wegen vilen auffgelauffenen Schulden, Ihre Gütter nit mehr
wol hatte bauwen und den Gläubigeren darob begegnen können,
Es ihr Sohn Hans Amssler auch nit länger Verrichten
noch für die Muoter und übrigen Kinder die Hausshaltung füren
wollen zu seinen Costen, sonder nach dem ein Jar als verflossen
die Sach auffgeben und einen richtigen Accord und Vergleich oder
Auskauff mit der Muoter zuthun begehrt; so sind sy desswegen
beidersetis miteinanderen übereinkommen und sich verglichen, die
Muoter mit handen und gewalt, Hans Hauwenstein zu Lauffor
Ires

Ihres Vogts, für sich und innamen Ihren Kinderen, der Sohn aber
für sich selbsten und seine Erben. Und Habend dissen Auskauff
gethan wie folget: Namlichen, Sölle der Sohn all die ligen-
den Güetter, so die Muoter bissharo besessen hat, zu Bötzen
Es seye Hauss, Ackern, Matten, Räben, Holtz und Wald, mit
allen zugehörigen Dingen, zu seinen Handen nemmen, für sein
eigen Guot hinfüro bauwen. Innhaben und besitzen und
zu solchen Worten und Gedingen
Dass er alle darauff stehenden Schulden sölle über sich nemmen,
seyend wenig oder vil, dieselben richtig machen und bezahlen.
Denne solle er auch die Kinder drauss erziehen, biss zu
Ihren tagen, da sy ihr Nahrung und Stuck Brot selbst erarbeiten
könnind.
Wann das die Kinder in die Ehe zu stellen begehrend, söller er einem
Jeden fünff gl. (Gulden) für die Morgengab 4) geben, damit söllend sy
von ihme aussgewiessen sein nichts mehr an ihme zufordern
haben.
Die Muoter betreffend, sölle der Sohn sy im Hauss lassen und by
ihm haben, so lang als sy will.
item, sölle er Ihnen ein Stuck Räben, ist ein halbe Juchh(arten), lassen nutzen
so lang sy lebt, nach Ihrem todt aber soelle diss stuck Räben
den übrigen Kinderen gehören und zufallen, und er Sohn nüt daran
zu erben haben.
Und wann diss Stuck Räben nur ein Soum wein gibt, soll der
Wein der Muoter allein bleiben, wann es mehr gibt, söllend
Sy den Wein miteinander theilen, zu halbem.
Dessen sind Gezeügen, so darby gewesen, die Ehrsamen und
Heinrich Heüwberger Undervogt, Joggli Amssler, Ruodi
Brack, beid zu Efigen, Hans Hauwenstein zu Lauffohr,
Heinrich Bäldi zu Rüffenacht. AD Den 2. Jan. 1677
Zusammenfassung der Transkription
Die vom verstorbenen Ulli Bäldin (dies war eine gängige Variation des Familiennamens Beldi) hinterlassene Witwe Verena Brändli hat Schulden und ist nicht mehr in der Lage, Ihre Güter alleine zu bewirtschaften. Ihr Sohn Hans hat auf seine Kosten seit einem Jahr den Haushalt geführt und seine Mutter und Geschwister unterstützt. Mutter und Sohn haben nun vereinbart, dass Hans sämtliche Güter übernimmt sowie auch alle darauf lastenden Schulden und Verpflichtungen. Er verpflichtet sich auch, die jüngeren Geschwister zu ernähren und zu erziehen bis sie für sich selber sorgen können oder aber heiraten. Der Mutter wird lebenslanges Wohnrecht gewährt und ein Stück Rebland überlassen zur alleinigen Bewirtschaftung. Bezeugt wird diese Vereinbarung durch Untervogt Heinrich Heuberger, den Gerichtssässen Joggli Amsler und Ruodi Brack aus Effingen sowie Heinrich Bäldi aus Rüfenach.
Genealogische Erkenntnisse

Obwohl die Totenrodel zwischen 1644 und 1704 fehlen (mit Ausnahme von 2 Seiten für die Pestjahre 1668/69) können wir dank den Ehe- und Taufbüchern die Familiengeschichte erfassen. Verena Brändli verheiratet sich am 13. Dezember 1647 mit Hans (Johannes) Amsler.
Hans ist der Sohn des damaligen Untervogts Kaspar Amsler. Die beiden taufen zusammen 6 Kinder zwischen 1649 und 1657, unser Protagonist Hans Amsler ist der 1652 erstgeborene Sohn.
Nur wenige Jahre später, am 24. Oktober 1659 verheiratet sich wiederum eine Freni Brändli, diesmal mit Uli Beldi.
Dies ist die zweite Heirat von Verena, die Witwe von Hans Amsler. Die Kinder aus dieser zweiten Ehe werden im Auskaufs-Vertrag von 1677 erwähnt "Denne solle er auch die Kinder drauss erziehen, biss zu Ihren tagen, da sy ihr Nahrung und Stuck Brot selbst erarbeiten könnind."

Wir können deshalb mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dass Johannes Amsler, der erste Ehemann Verena‘s um 1657/58 verstarb, im Alter von nur 32 Jahren. Verena Brändli, eine vermögende Witwe und in der Blüte Ihrer Jahre, fand trotz der kleinen Kinderschar bald einen neuen Ehemann, Uli Beldi von Rüfenach, Kanton Aargau. Die beiden heiraten 1659 und taufen bis 1667 vier weitere Kinder.
Auch bei der zweiten Heirat ist das Glück nur von kurzer Dauer, Uli Beldi wurde vielleicht ein Opfer der 1668/69 grassierenden Pest, mit Sicherheit verstarb er jedoch spätestens 1675. Verena Brändli, nun zum zweiten Mal verwitwet, musste nun ihre zehn Kinder alleine durchbringen. Die Kinder aus der ersten Ehe, obwohl noch nicht erwachsen, unterstützten sie dabei tatkräftig, auf dem ältesten Sohn Hans lastete eine grosse Verantwortung. Der Auskauf von 1677 bestätigte seine tragende Rolle als eigentliches Familienoberhaupt.
Dank des Vertrages von 1677 und den Kirchenbüchern wird nun klar, dass Verena Brändli zweimal verheiratet war, zuerst mit Johannes Amsler, dann mit Uli Beldi. Der erstgeborene Sohn aus erster Ehe, Hans Amsler, wurde nach dem allzu frühen Tod seines Vaters mit dem Namen seines Stiefvaters identifiziert und war von nun an als „Beldi Hans“ bekannt.
Um 1693 erscheint er als Gerichtssäss in den Effinger Gerichtsakten, dieses ehrenvolle Amt hielt er inne bis zu seinem Tod im Jahr 1729.
Die Nachfahren von Hans Amsler, „Bäldi Hans“ genannt, trugen nun diesen Beinamen bis ins 18. Jahrhundert, eine Generationen überdauernde Erinnerung an das Schicksal dieser Stieffamilie.
1) Das Chorgericht des bernischen Aargaus im 17. Jahrhundert, Willy Pfister, 1939
2) Leben auf dem Bözberg, Max Baumann, 1998
3) Effinger Gerichtsakten, Band 1 – Staatsarchiv Aarau; AA #1350
4) Anmerkung aus dem „Schweizer Idiotikon“: Morge(n)gāb:
a) die Gabe, welche nach altgermanischer Sitte der Mann der neuvermählten Frau am Morgen nach der Hochzeit als Gegenleistung für ihre ihm dargebrachte Jungfräulichkeit schenkte
b) Geschenk, Vermächtnis, welches ein Ehegatte dem anderen macht (also auch die Frau dem Mann)