Erinnerungen von Karl Heuberger (1875 – 1956)

Verborgene Geschichten

Es gibt unzählige Geschichten, die noch nicht erzählt worden sind. Einige davon wollen jedoch gefunden werden. Sie dämmern viele Jahre im Verborgenen dahin und warten darauf entdeckt und ans Tageslicht gebracht zu werden. Als hätten sie ein Eigenleben, auf der Suche nach einer Leserschaft, machen sich Geschichten eines Tages bemerkbar, durch stille und unscheinbare Zeichen. Der- oder diejenige von einer Geschichte Auserwählte ist dazu bestimmt, diese Zeichen zu erkennen, zu lesen und deuten, um dann die Geschichte endlich zu erzählen.

Ich freue mich jedes Mal, wenn ich der Auserwählte einer solchen vor sich hin schlummernden Geschichte bin. Es ist, als ob ich einen Lottotreffer gemacht, den Wettbewerb gewonnen oder die Schätzfrage nach der Anzahl Murmeln im riesigen Glasgefäss im Spielzeugladen richtig beantwortet hätte. Oft dauert es eine ganze Weile, bis sich der Stoff der Geschichte offenbart, die verschiedenen Teile des Puzzles zusammenkommen und sich zu einem Bild fügen.

Am Anfang dieser Geschichte stand einer meiner vielen Besuche im Staatsarchiv Aarau. Meinen Wunschzettel an Archivalien hatte ich wie immer vorgängig gesendet und ein Wagen gefüllt mit Arbeit stand für mich bereit, als ich an einem nebligen Novembermorgen ankam.

Beim Sichten des Urbars #AA1459 mit dem Titel "Bözen: Beschreibung der Bezirke und Güter und der Bodenzinse 1. Hälfte 18. Jahrhundert" stiess ich in derselben Archivschachtel auf eine dünne Mappe mit zwei Fotokopien eines Einbürgerungs-briefes. Die eine Seite war ein "Dobel" oder Duplikat, auf der anderen Seite die Adresse der Gemeinde Bözen, beide Schreiben verfasst in ungelenker Kurrent-schrift. Es handelte sich um den Einbürgerungsbrief von Untervogt Johannes Heuberger aus dem Jahre 1766.

Obwohl Elfingen und Bözen zusammen mit Effingen eine Kirchgemeinde bildeten, war es Johannes wichtig, dass er nicht mehr als Elfinger, sondern fortan als Bözer Bürger galt. Dieses Bürgerrecht war ihm einiges wert, er bezahlte der Gemeinde nicht nur die beträchtliche Summe von 50 Gulden (dies entspricht einem Halbjahresgehalt eines Handwerkers) sondern auch jedem Bürger ein Mass Wein und ein Pfund Brot!

Gemäss einer handschriftlichen Notiz des Staatsarchivars war das Dokument von Frau Marianne S. im Jahre 1994 an das Staatsarchiv Bern gelangt, von dort kam es nach Aarau. Das hiesige Staatsarchiv entschied sich, das Dokument der Gemeinde Bözen zu überlassen, wo es dann irgendwo abgelegt worden ist.

Doch die Archivare hatten in weiser Voraussicht eine Kopie angefertigt. Und wohin damit? Wohl am besten in ein Urbar, das den Titel Bözen trägt...

naturalization letter of Hans Jacob Heuberger
Dobel mit Transkription, (Quelle: #AA 1459 Staatsarchiv Aarau)

Transcription:

Bötzen den 2. Tag im Jänner 1766 ist eine
ehrsame gmeind gehalten worden –
und der undervogt Heüwberger als gewesener
hintersäss hat angehalten für in und die
seinigen angehalten für bürger zu sein und
die gemeind hat in auf dem fuss angenomen
dan er verspricht beider dass er der gmeind 50 gl
erlegen item yederem bürger ein Mass Wein und
ein Pf. brod. item verspricht er noch beider dass
er ali bürgerliche gefel endtrichten ohni aus
nam wie ein anderer bürger und dass under-
schribt er mit seiner eignen Hand und zuglich
mit seinem bütschaft darauf gedruckt das er
diese Schrift auch genau wöli ohne eineche
gefert. Obiges beschint Jacob Heüberger Undervogt zu Bözen (Siegel: IHB)

Und genau hier hat sich eben die Geschichte gemeldet, die erzählt werden wollte! Sie handelt von den Erinnerungen von Karl Heuberger, Apotheker in Bern, ein Nachkomme des vorgenannten Untervogts in Bözen.

Also ging ich auf die Suche nach Marianne S. Dort wo über 200-jährige Dokumente im Familienbesitz sind, könnte ja noch mehr vorhanden sein, Spuren aus der Vergangenheit, Fotos, Fertigungsakten, Erinnerungsstücke und anderes mehr. Die erste Google Suche war bereits auf traurige Art erfolgreich, sie lieferte mir die Todesanzeige der Gesuchten, sie war 2014 verstorben.

Dies erklärte ihre Gabe an das Staatsarchiv in Bern zwanzig Jahre vor ihrem Tod - was tut man mit zunehmendem Alter mit all dem Gesammelten, alten Fotos von längst verstorbenen Menschen, den schriftlichen Unterlagen, die niemanden mehr interessieren im Internetzeitalter?

Diese Frage hatte sich wohl auch Marianne gestellt, als sie damals aufgeräumt hatte. Die Todesanzeige führte mich zu den Angehörigen. Nach einigen Telefonaten und Emails wurden meine Bemühungen belohnt. Nicht immer können die nächsten Angehörigen Auskunft geben über die immateriellen Schätze einer verstorbenen Person, deren Erinnerungen, Träume und Gedanken oder deren alte Fotos und Dokumente. Aber ein Sohn von Marianne, selber interessiert an seiner Familien-geschichte, wusste Bescheid über den Nachlass seiner Mutter und machte sich auf die Suche. Er fand die Aufzeichnungen seines Grossvaters Karl Heuberger (1875 – 1959), gebürtig von Bözen und Apotheker in Bern.

Dieser hatte im Alter von rund 75 Jahren nicht nur seine Erinnerungen an seine Jugendzeit zusammengetragen, sondern auch viel Wissenswertes über seine Familiengeschichte und seinen Heimatort. Dies nicht zuletzt auch dank der Mithilfe von weiteren und damals prominenten Heuberger aus Bözen. Aus diesen Berichten ergibt sich ein reiches Bild einer Bözer Grossfamilie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit vielen Facetten und Details, eine eindrückliche Schilderung des Dorflebens einer vergangenen Zeit.

Ebenfalls erhalten ist sein Lebenslauf und derjenige seiner Gemahlin, sowie eine Stammtafel der Familie Heuberger. Karl besuchte die Bezirksschule in Frick, die 1866 eröffnet worden ist und anschliessend das Gymnasium der Kantonschule in Aarau. Er war einer der ersten Bözer Bürger gewesen, die damals den Schritt in die Welt der Akademiker wagten. Dies war damals aussergewöhnlich im Bauerndorf, nur die allerwenigsten Familien konnten es sich leisten, auf die Arbeitskraft eines Sohnes zu verzichten und dessen Ausbildung zu finanzieren.

Bei Töchtern war dies noch weniger der Fall, wie die Geschichte von Marie Vögtlin aus Bözen illustriert, der ersten Schweizer Ärztin. Sie war die Tochter von Julius Daniel Vögtlin, des Pfarrers von Bözen, und dessen Ehefrau Henriette geborene Benker. 1868 äusserte sie den Wunsch, Medizin zu studieren und Ärztin zu werden, was einen schweizweiten Skandal hervorrief. Damit Marie Vögtlin 1873 zum Examen zugelassen wurde, musste ihr Vater schriftlich eine Bewilligung einholen!

Karl Heuberger – Apotheker in Bern

Ein Exlibris ist ein in Bücher eingeklebter Zettel oder ein Stempel, der zur Kennzeichnung des Eigentümers diente. Wiederbelebt wurde die Exlibris-Kunst um 1880 und erlebte damals einen grossen Aufschwung. Dasjenige von Karl Heuberger steht ganz im Zeichen seines Berufes als Apotheker, es ist ein Salomonssiegel, verbreitet in der Umgebung von Bözen, hier bekannt als "Dittiwurz". Obwohl giftig, ist es auch eine Heilpflanze.

Ex Libris of Karl Heuberger depicting a lily of the valley

Karl Heubergers Biografie ist geprägt von Tatendrang und unermüdlicher Schaffenskraft. Nach seinem Studium kam Karl in ganz Europa herum, baute in Bern ein eigenes Geschäft auf, wurde Präsident des bernischen Apotheker-vereins und war Mitbegründer der Collaboration Pharmaceutique SA, einer Einkaufszentrale für Apotheken, die spätere Galenica AG. Karl war ein Pionier und einer der führenden Apotheker in der Schweiz. Dabei blieb er seinen Wurzeln im einfachen Bauern-dorf treu.

Karl Heubergers Apotheke an der Spitalgasse in Bern wurde von einem seiner Schwiegersöhne übernommen und besteht heute noch.

Karl Heubergers Tochter Marianne berichtet von den sonntäglichen Besuchen bei ihren Verwandten in Bözen. Karls Familie stieg jeweils in Bern in den Zug und wurde am Bahnhof Effingen mit der Pferdekutsche, auch Break genannt, abgeholt und aufs "köstlichste bewirtetet". Auch half man gelegentlich auf dem Bauernhof von Onkel Gottlieb und Anni, die von Marianne als Lieblingstante bezeichnet wird.

Zum besseren Verständnis der Familie hier sechs Generation der Heuberger, welche vom 1766 in Bözen eingebürgerten Untervogt Johannes Heuberger aus Elfingen abstammen.

Family tree of bailiff Hans Jacob Heuberger
Stammtafel von Untervogt Hans Jacob Heuberger

Die folgende Geschichte basiert, neben anderen Quellen, auf fünf Texten, die Karl Heuberger verfasst hat. Sie lagen mir als digitale Kopien vor. Sie stammen aus dem Nachlass seiner Tochter Marianne. Die Erlaubnis zur Verwendung der Inhalte habe ich bei deren Sohn eingeholt.

Einer dieser Texte ist als maschinengeschriebenes Original aus dem Jahre 1953 mit dem Titel "Versuch einer Geschichte der Familie Heuberger in Bözen" erhalten.

Bei den anderen vier Texten handelt es sich um Abschriften, welche seine Tochter vermutlich in den 90er Jahren von den heute nicht mehr vorhandenen Originalen erstellt und mit einzelnen Kommentaren ergänzt hat. Die Titel der Texte lauten:

  • "Lebenslauf von Karl Heuberger" / "Orientierung über die Apothekenverhältnisse in Bern, zu meiner Zeit."
  • "Kurz gefasster Lebenslauf von Berta Heuberger - Schmid"
  • "Der Geschlechtsname Heuberger" / "Unsere Linie der Heuberger in Bözen" / "Meine Eltern und meine Geschwister"
  • "Das Dorf Bözen"

Zwei dieser Aufzeichnungen von Karl Heuberger werden hier wiedergegeben:

Der Geschlechtsname Heuberger

"Es darf wohl angenommen werden, dass der Geschlechtsname Heuberger in Beziehung steht zum Flurnamen Heuberg. Im 15. Jahrhundert, als die Geschlechtsnamen entstanden, nannte man da und dort eine Erhebung Heuberg, z.B. in Kaisten bei Laufenburg wurde der Rütihof Heuberghof genannt.

Ausser im Schenkenberger Amt, das den heutigen Bezirk Brugg umfasste, gibt es Heuberger auch in St. Gallen, Appenzell, Thurgau, Bern (Ersigen). Unser Familienname soll auch in Bayern, Württemberg und Baden vorkommen. 1726 ist ein Hans Heinrich Heuberger von Bözen nach der Rheinpfalz ausgewandert. Seine Nachkommen - offenbar stark mit fremdem Blut vermischt - seien die fahrenden Schauspieler aus der Pfalz gewesen. Ob auch die bestbekannte Theatergruppe von "Vater Heuberger", von der man mir in Burgdorf viel erzählt hat, auch von diesem Auswanderer abstammt, weiss ich nicht. Aber einer dieser Nachkommen sei in Hoffer, im Zweibrückischen, Nachtwächter gewesen, sei unverheiratet gestorben und habe sein Vermögen den Verwandten in Bözen zukommen lassen.

Es scheint, dass sich die Heuberger im Gebiet des heutigen Kantons Aargau und darüber hinaus verbreitet haben. Der Name findet sich in den Pfarrbüchern und Bürgerregistern von Aarau, Zofingen, Biberstein und anderen mehr. In einer Rechnung der Landvogtei Lenzburg ist zu lesen:

“denne vom Peter Heuberger aus Baselbiet gebürtig, dass er der Leibeigenschaft frei und ehrlicher Geburt seie, zu einem Hintersässen angenommen worden sei. Collection received 50 Pf.”

Seit 1500 werden Heuberger aus Bözen und auch aus anderen Gebieten als Söldner in fremden Diensten erwähnt. So zum Beispiel ein Hauptmann Heuberger aus dem Thurgau, der die italienischen Feldzüge mitgemacht und nachher den fünf Inneren Orten als Söldner gedient hat.

Auch in der Nachbargemeinde Elfingen gab und gibt es heute noch Heuberger. Sie sind nachweisbar von Bözen gekommen, wahrscheinlich durch Einheirat. Aus einer Pfandurkunde geht hervor, dass Hansjoggeli Heuberger, der seinen Hof von seinem Vater Kaspar und von seinem Grossvater Sebastian übernommen hatte, der Stammvater-der Elfinger Heuberger ist. Er hatte zwölf Kinder, wovon eines 1668 an der Pest gestorben ist, was im Totenregister von Elfingen vermerkt ist. (Sein Vater und sein Grossvater wurden noch als "von Bözen" zubenannt.)

Aus den Pfarrbüchern und anderen Urkunden kann man entnehmen, dass die Besitzer der Mühle in Bözen vom vorgenannten Sebastian Heuberger abstammen, und dass die Mühle von 1562 bis 1892 Besitztum von Gliedern dieser Familie gewesen ist. Der letzte Müller Jakob Heuberger (1821 – 1903) war auch Gemeindeammann und später Bezirksrichter. Er war ein intelligenter recht-schaffener Mann, ein wenig Grandseigneur, an den ich mich sehr gut erinnern kann. Wir Dorfbuben hatten einen Heidenrespekt vor ihm. Er war der Grossvater meiner Schwägerin Ida, Jakobs Frau. Die Herren Direktionssekretär Heuberger von Aarau und der Genealoge Th. v. Lerber haben beide herausgefunden, dass verschiedene Linien der Heuberger existieren, die durch gegenseitige Einheirat blutsverwandt sind, mit Ausnahme der Linie des Jakob Heubergers.

Unsere Linie der Heuberger in Bözen

Unsere Linie stammt vom obenerwähnten Untervogt Jakob Heuberger ab, der am 11. Mai 1732 geboren wurde und am 6. April 1802 gestorben ist. Er war Bürger von Elfingen, besass einen Hof in Linn und eine Mühle in Villnachern. Er bürgerte sich 1766 in Bözen ein, sein Bürgerbrief ist erhalten (siehe obige Transkription). Er war Untervogt, also Stellvertreter, des bernischen Landvogtes zu Schenkenberg, später zu Wildenstein, als die Burg Schenkenberg nicht mehr bewohnbar war.

Sein Sohn Hans Jakob heiratete Elisabeth Byland aus Veltheim bei Schinznach, die Tochter des Amtsweibels. Er wurde 1803, nach Errichtung des Standes Aargau, Gemeindeammann von Bözen und 1837 Bezirksrichter.

Sein Sohn Johannes wurde Schmied. Er wurde am 24. Dezember 1788 geboren und starb am 26. Januar 1860. Er verheiratete sich mit Elisabeth Brack von Bözen. Er erbaute 1820 unser Stammhaus im Oberdorf. Sein Sohn, Jakob Heuberger, wurde am 8. Oktober 1820 geboren und starb am 30. Juli 1898. Er war verheiratet mit Elisabeth Brändli von Bözberg, und in 2. Ehe mit Elisabeth Brack aus der Effinger Mühle. Er war mein Vater.

Er war Schmied und wohnte mit seiner Familie in unserem Stammhaus. Im angebauten Nachbarhaus wohnten zwei Brüder des oben erwähnten Johannes, der ledige Hans Kaspar und Hans Heinrich, "Grossrats" genannt. Sein Sohn Jakob zog ca. 1895 nach Brugg, wo er privatisierte. Als mein Bruder Gottlieb heiratete, zogen meine Eltern in dieses Haus. Später wohnte mein Bruder Jakob darin (Anmerkung: Beide Häuser sind heute Im Besitz der Gemeinde Bözen).

The Heuberger family residence - map dated 1875
Karte Oberdorf mit Karl Heubergers Elternhaus in Bözen um 1875 (Quelle: Gemeindearchiv Bözen)

Mein Vater

Jakob Heuberger, mein Vater, ist am 8. Oktober 1820 geboren. Er war Bürger von Bözen, das Bürgerrecht in Elfingen hatte er aufgegeben. Er heiratete am 15. Juli 1855 Elisabeth Brändli von Bözberg, die schon 1857, nach der Geburt eines Mädchens Elisabeth, starb. Das "Lisebethli" wurde anfänglich in Bözberg aufgezogen. Am 10. September 1861 verehelichte er sich zum zweiten Mal, und zwar mit Elisabeth Brack von Bözen und Effingen, aus der Effinger Mühle stammend. Sie gebar drei Söhne.

Mein Vater erlernte den Beruf eines Huf- und Wagenschmids, der zur Zeit des "Fuhrwerks" auf der Bözberg Strasse als einträglich galt. Nach der Lehre ging er auf die Walz, vor allem in Genf und an anderen Orten der Westschweiz, lernte aber kein Französisch. Heimgekehrt, übernahm er von seinem Vater die "obere Schmiede" und das Wohnhaus. Er war ein tüchtiger und fleissiger Schmiedemeister, weit herum bekannt für "hauig Gschirr" (Gertel, Beil, etc.), und die Bauernwagen verstand er zweckmässiger und hübscher zu beschlagen als andere. Am Sonntag kamen die Bauern von weit her, um mit ihm Geschäfte zu machen. Auch als guter Hufschmied war er bekannt, aber oft ungeduldig mit unruhigen Pferden.

Als unser Nachbar Grossrats Heuberger den ersten Selbsthalterpflug ins Dorf brachte, hatten meine Brüder keine Ruhe, bis ihnen der Vater einen gleichen verfertigte. Dazu liess er von einem Pflugschmied in Stammheim die nötigen Guss- und Hammerschmiedestücke zukommen. Der Pflug fiel sehr gut aus, und Bestellungen dafür folgten sofort.

Im Sonderbundskrieg war er Unterleutnant und avancierte zum Hauptmann. Ich erinnere mich nicht, ihn in Uniform gesehen zu haben.

Obschon er ein jähzorniger und aufbrausender Mann war, wurde er im Dorf als rechtschaffen und gerecht geschätzt. Er wurde denn auch als Friedensrichter - Stellvertreter gewählt, der als erste Instanz kleinere Händel und Streitigkeiten zu schlichten hatte. Anfang der 1880-er Jahre wurde er Gemeindeammann und bekleidete dieses Amt während mehreren Perioden.

Da meine beiden Brüder das Schmiedehandwerk nicht erlernen wollten, (es fehlte ihnen die robuste Konstitution, sie fürchteten auch die strenge Lehre beim Vater), und nach der Eröffnung der Bözberg Bahn das "Fuhrwerk" überflüssig wurde, gliederte sich mein Vater langsam einen Bauernbetrieb an. Er kaufte Land, dass er, der Nachfrage wegen, meist überzahlen musste.

Auf dem grösseren Waldkomplex "in der Waltern", auf Zeiher Boden gelegen, den schon mein Grossvater billig erworben hatte, wurde das Holz geschlagen, der Boden umgebrochen und angepflanzt. Die "Waltern" machte sich, wurde fruchtbar und war bei Vaters Tod ein wichtiges Aktivum geworden. Mit 70 Jahren war er noch im Vollbesitz seiner Kraft, trug einen schweren Sack Weizen auf den Estrich, ohne ausser Atem zu sein. Mit 75 Jahren alterte er und klagte oft über Magenbeschwerden. Zu spät wurde der Arzt herbeigezogen, der das Übel auch bald erkannte: Magenkarzinom, das Erbübel der Familie. Operieren konnte man nicht mehr, und so fand ich ihn krank vor, als ich 1898, nach meinem ersten Semester, nach Hause kam. Ich machte bei ihm Nachtwache, vom 29. zum 30. Juli, und in meiner Unerfahrenheit bemerkte ich nicht, dass mein Vater in der Morgenfrühe schmerzlos hinüberschlummerte.

Meine Mutter

Elisabeth Heuberger-Brack, meine Mutter, ist am 3. August 1832 geboren. Sie stammte aus der Effinger Mühle, aus einer zahlreichen Familie. Ein Bruder von ihr (Jakob?), der aus fremden Diensten heimgekehrt war und nicht mehr viel taugte, wohnte in einem Häuschen neben der Mühle. Ein anderer Bruder, Gottlieb, war Buchhändler bei Sauerländer in Aarau, hatte eine psychisch kranke Frau und einen Sohn, der letztlich in Königsfelden interniert werden musste. Ich kümmerte mich um ihn. Der dritte Bruder, Fritz, hatte die Mühle übernommen. Seine tüchtige Frau aus Elfingen schenkte ihm zwei Kinder, einen Sohn Fritz und eine Tochter Anna. Diese Anna verheiratete sich mit dem Gemeindeschreiber Spillmann in Villnachern, starb aber früh und hinterliess eine Tochter Trudi. Dieses Trudi wurde in unserer Familie, vor allem bei Gottlieb und Anna Heuberger aufgezogen. Es verheiratete sich mit Marcel Chollet aus Genf, und lebte in Bern.

Dann war noch eine ledige Schwester da, Annamarie, Ammereili genannt. Sie besorgte dem Bruder Fritz vor seiner Verheiratung und nach dem Tode seiner Frau die Haushaltung. Infolge der sehr schlechten Wohnverhältnisse in der schattigen und feuchten Mühle wurde sie tuberkulös und starb in Alter von etwa 45 – 50 Jahren.

Mit meiner Mutter war ich oft in der Effinger Mühle, und ich erinnere mich gut an meine Grossmutter, eine gütige Frau, die Scherrer geheissen hatte und vom Schlossgut von Biberstein stammte. Von ihr bewahren wir einen Göttilöffel auf, einen silbernen mit eingravierten Initialen L.S., der, sagte man, vom Landvogt stamme.

In der Effinger Mühle ging am Anfang des 19. Jahrhunderts allerlei vor, wie ich als Kind aus den Gesprächen meiner Mutter erhaschen konnte. In jenen politisch so unruhigen Zeiten gingen Revolutionäre und Verschworene dort ein und aus und Verfolgte wurden aufgenommen, die die Baselbieter "Traguner" mit langen Säbeln im Heustock suchten.

Meine Mutter war eine gute liebe Frau, die sehr unter dem rauhen Wesen meines Vaters litt und ihn nicht zu "nehmen" wusste.

Ihr sehnlichster Wunsch war, dass ihr Jüngster Pfarrer oder Bezirkslehrer werde, was sich nicht erfüllte. Später machte sie mir bei jedem Besuch Vorwürfe, dass ich noch ledig sei. Als ich ihr dann meine Braut vorstellte, war sie mit der Fricktalerin auch nicht zufrieden. Aber sie änderte bald einmal ihre Meinung, als sie sie besser kennen lernte und als 1911 eine Enkelin auf die Welt kam.

Gesundheitlich ging es ihr gut bis ins hohe Alter. Sie starb am 19. März 1914 an einer Lungenentzündung. Sie hinterliess eine grosse Lücke bei ihren beiden Schwiegertöchtern und den Enkelkindern in Bözen.

Meine Geschwister

Elisabeth, meine Stiefschwester, ist am 7. Oktober 1857 geboren, und verlor ihre Mutter im Alter von 10 Tagen. Sie wurde zuerst bei ihrer Familie in Bözberg und Riniken aufgezogen, kam dann wieder in unser Haus, als mein Vater zum 2. Mal geheiratet hatte. Wie man mir erzählte, hat sie mich in meiner frühesten Jugend gepflegt. Später war sie wieder bei ihren Verwandten in Bözberg, die, wie es schien, unkorrekt meiner Mutter gegenüber waren.

Als Erwachsene war Elise- wie sie genannt wurde- in der "Krone" in Lenzburg Buffetdame. Sie lernte dort den Küchenchef Albert Ott aus Basel kennen, mit dem sie sich verheiratete. Das junge noch unerfahrene Paar übernahm dann den Gasthof zur Krone, der in der Folge nicht rentierte. Es ist meiner Mutter zu verdanken, dass sich mein Vater nicht in diese Angelegenheit einmischte und Geld verlor.

Die jungen Eheleute wanderten dann nach den USA aus, wo sie im Gastgewerbe Erfolg hatten. 1895 kamen sie mit ihren beiden Buben für einige Wochen nach Bözen zu Besuch. Nach dem Tode ihres Mannes lebte Elise bei einem ihrer Söhne in Miami, wo sie am 13. Mai 1939 starb. Der andere Sohn lebte in Brooklyn. Ich habe gar keine Verbindung zu diesen meinen Neffen.

Jakob, mein älterer Bruder, ist am 22. Juni 1862 geboren. Da er für den 1 1/4 stündigen Schulweg nach Frick zu schwächlich gewesen sei, besuchte er drei Jahre lang die Bezirksschule in Brugg. Er wurde Landwirt, nahm nebenbei Privatstunden bei einem Notar und bestand das Examen als Fertigungsaktuar (Ausstellung von Kaufverträgen und Fertigungsurkunden). Als der hochbetagte Gemeindeschreiber in Bözen starb, wurde er sein Nachfolger. Er besorgte die Gemeindeschreiberei und das Fertigungswesen mit Geschick und Gewissenhaftigkeit bis ins hohe Alter. Er war verheiratet mit Ida Heuberger aus dem Bözer Oberdorf und hatte drei Söhne. Robert, der älteste war Bankbeamter in Zürich, Karl Kaufmann in Luzern, Alfred (Fridel) hat das elterliche Landwirtschaftsgewerbe übernommen. Er ist verheiratet mit Ida Brack und hat drei Kinder. Jakob starb am 8. Oktober 1941.

Gottlieb, mein jüngerer Bruder, ist am 9. Oktober 1865 geboren. Er besuchte die acht Klassen der Gemeindeschule in Bözen. Er wohnte in unserem Stammhaus und war verheiratet mit Anna Brack von Bözen und hatte drei Kinder. Er war Bauer mit Leib und Seele und besorgte Vieh, Äcker und Wiesen sehr zuverlässig. Er war ein unermüdlicher Arbeiter. Schon früh litt er an Magenbeschwerden. Er starb am 10. Januar 1935.

Der ältere Sohn, Walter, Übernahm die Landwirtschaft, die Mutter, solange sie noch lebte, und die Schwester Hulda besorgten ihm Haushaltung und Garten. Der jüngere Sohn, Otto, wurde Elektrotechniker bei der Ciba in Basel. Er verheiratete sich mit Gertrud Zipf von Basel und hat zwei Kinder.

Das Dorf Bözen

Das Dorf Bözen ist ein Weinbauerndorf. Seine Häuser sind gemauerte Jura-Giebelhäuser, Dimension und Dachform haben sich in ursprünglicher Weise erhalten, die Innenausstattung ist im Lauf der Jahre erneuert worden. Zu den ältesten Häusern zählt der Gasthof zum Bären, 1517 errichtet, mit grossem Tenn- und Stallteil, wie er für den Personen- und Gütertransport vor dem Bau der Bözberg Bahn gebraucht wurde. Nicht weit davon fällt ein Haus auf (Nr. 52), das als Zehnthaus gedient hat. In der Dorfmühle trägt der Mühlstuhlpfeiler die Jahrzahl 1575.

Bözen in 1902 - two women fetching water from the village fountain
Ansicht Oberdorf 1902 – Albert Heim (Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Anmerkung: Am linken Bildrand ist ein Teil des Elternhauses von Karl Heuberger zu erkennen. Gegenüber liegt die alte Trotte und im Hintergrund ist der Kirchturm der Bözer Kirche erkennbar. Rechts der Strasse verläuft der Elfinger Bach.

Damals gab es noch keine Wasserversorgung, es musste am Dorfbrunnen geholt und mühsam nach Haus getragen werden.

Die protestantische Kirche erhebt sich auf dem aussichtsreichen Sporn nördlich des Dorfes. Sie ist 1667 als ungegliederter Predigtsaal mit um zwei Stufen erhöhtem Chor gebaut worden. Die Kanzel und ihr Schalldeckel sind 1668 von Tischmachermeister Hans Löüpin verfertigt worden.

Der Bau der Kirche gleicht dem einer anspruchslosen Kapelle. Der einzige Schmuck ist ein Sandstein-Epitaph auf der Ostseite, die Kunde gibt von seiner Stifterin, Justine Roland, geb. Dietrich von Hohenstein. Ihr Gemahl, Andreas Roland aus Königsberg, Major in französischen Diensten, starb als Kommandant in Laufenburg und wurde in Bözen als der nächsten protestantischen Gemeinde begraben. Ein silberner vergoldeter Becher, den Frau Justina bei dieser Gelegenheit der Kirche geschenkt hatte, diente zu meiner Zeit als Abendmahlbecher.

House where Karl Heuberger was born - Foto around 1975
Geburtshaus Karl Heuberger um 1975 (Quelle: Familienbesitz)

Über unser Stammhaus, das Johannes Heuberger 1827 erbaut hat, steht in Kunstdenkmäler der Schweiz, Aargau II:

....an der Strasse nach Elfingen, Nr. 30, ehemalige Schmiede, 1827 durch J. Heuberger erbaut, durchgehend gemauert, unter Satteldach. In der Stube grünschwarz ornamentierter Ofen und Kunst. Weisser Zierfries mit Urnen und Spruchbändern in Sepiamalerei von Wolfgang Schmid, Hafnermeister in der Gipf bei Frick und Egli, Maler in Aarau, 1834. Ein gleicher Ofen im Obergeschoss, mit Inschrift "Johannes Heuberger, Hufschmid, 1832".

Dies ist mein Geburtshaus, wo ich auch meine Kinderjahre verlebt habe. Die Schmiede meines Vaters befand sich nicht hier, sondern unten beim Zusammenfluss der drei Bäche.

Von den drei Bächen, die sich in Bözen zum Sisselbach vereinigen, möchte ich den von Elfingen speziell erwähnen. Er hat ein sehr ausgedehntes Einzugsgebiet, schwillt nach einem heftigen Gewitter rapid an. Ich habe als Knabe zweimal erlebt, wie er aus Elfingen Zuber und Standen und Hausrat gebracht hat und auch Bözen überflutet und verwüstet hat.

Bözen liegt in einem Tafeljuragebiet. Die Hügel haben einen breiten, oft topfebenen Rücken, auf dem vielleicht etwas Wald wächst. Meist aber sind es "Ägerten", die ihn bedecken, Grundstücke mit dünner Humusschicht und kümmerlichem Grasbewuchs. Aber Knabenkräuter verschiedenster Arten fand Marianne, als wir von Ueken über den Mühleberg nach Bözen wanderten. Infolge rascher Verwitterung der anstehenden Kalkschichten sind die Aegerten mit der Zeit etwas tiefgründiger geworden, und gaben, mit Zusatz von Kunstdünger, etwas Heu und Emd.

Das Ackerland liegt meistens an den untersten Hängen der Hügel, ist nicht sehr fruchtbar, lehmig, schwer zu bearbeiten und wegen fortwährender Erbteilung so zerstückelt, dass es nicht rentabel bearbeitet werden konnte. Die Güterzusammenlegung und genaue Vermessung vor etwa 20 Jahren (ca. 1930) war daher eine Wohltat.

Die Rebberge gaben einen sauren Wein, den man in schlechten Jahren nur petiotisiert, d.h. vor der Vergärung mit Zuckerwasser vermischt, geniessen konnte. Er wurde aber immer wieder von Bauern im oberen Aargau und von Weinhändlern gekauft. Neuerdings werden die überalterten Weinstöcke durch neue Sorten amerikanischer Abstammung, die auch für Schädlinge weniger anfällig sind, ersetzt. Da auch bei der Ernte eine sorgfältigere Auslese stattfindet, hat sich Qualität und Haltbarkeit der Bözer Weine verbessert. Der Weinbau, neben dem Ackerbau, bedeutete für die Bevölkerung grosse Arbeit. Vielfach fielen grosse Arbeiten bei Ackerbau und Rebbau auf den gleichen Zeitpunkt.

Das Problem der Gegend bestand darin, dass an den trockenen Rebhängen weder Gras noch Gemüse gut gedieh, Industrie fehlte noch gänzlich, und der Ackerbau allein konnte die Bevölkerung nicht ernähren. So war der Verkauf von etwas Wein ein wichtiger Zuschuss, um an Martini die fälligen Zinsen bezahlen zu können. Oder, in guten Jahren, ein Äckerlein oder eine Kuh dazukaufen oder eine Hypothek abzahlen zu können. Man möge bedenken, wie "erschunden" dies war' Getreide und Kartoffeln, etwas Gemüse und Obst, ein Säuli zum Schlachten im Spätherbst -- das war alles, was der Landwirtschafts-betrieb hervorbringen konnte. Reis, Mais, Teigwaren, Kaffee, Fett und Kleider mussten hinzugekauft werden.

Manchmal reichte nicht einmal das eigene Mehl. Als Getränk verbrauchte man nicht den eigenen Wein, der wäre zu teuer gewesen. Man streckte ihn höchstens mit Zuckerwasser, oder begnügte sich mit Tresterwein.

In den 1850-er Jahren war die Not gross, die Kartoffeln verfaulten in der Erde, die Getreideernte missriet, viele Leute mussten Hunger leiden. Ein Nebenverdienst war die Leinenweberei, die aber später ganz einging.

Bözen hatte um 1800 herum etwa 500 – 600 Einwohner, es war aber nicht genug Nahrung für alle vorhanden. So zogen mit der Zeit junge Leute in Gegenden aus, wo Industrie etwas Verdienst brachte. Andere verliessen die Heimat, wanderten aus nach Amerika, wo sie sich als Hausangestellte und Bauarbeiter etwas Geld zusammensparten, um schliesslich eine kleine Farm zu erwerben. Von diesen fand selten einer den Weg zurück nach Europa, höchstens zu einem kurzen Besuch. Zwischen 1860 und 1890 kam es zu einer richtigen Auswanderungsepidemie. Mein Bruder Jakob, der Gemeindeschreiber war und solchen Dingen nachstudierte, behauptete, in den USA lebten ebenso viele Bözer wie im Dorf selber. Bis 1875 liessen sich wohl auch einige anwerben und kamen dann, an Leib und Seele verdorben, wieder heim. Ich erinnere mich, dass mein Vater als Gemeindeammann, von der italienischen Botschaft in Bern Renten zugeschickt erhielt, die er den Hinterbliebenen der "Napolitaner" auszubezahlen hatte.

Verdienst brachte das "Fuhrwerk", wie man den Verkehr mit Personen und Gütern auf der Bözberg Strasse von Basel nach Zürich und in die Ostschweiz nannte. Die Strasse stieg über Effingen bis auf den Stalden stark an, so dass Vorspann benötigt wurde. Dafür waren die Pferde in Bözen vorhanden, wo in den Ställen von "Bären" und "Post" je 20 – 25 Pferde untergebracht waren.

Hier erfolgte auch der Pferdewechsel der Post. Der Unterhalt der Wagen brachte dem Wagner und dem Schmied schöne Einnahmen, und der regelmässige Hufbeschlag der Pferde erlaubte meinem Vater und Grossvater, sich einen Gesellen zu halten. Man bedenke, was für einen Ausfall die Eröffnung der Bözberg Bahn im Jahre 1872 brachte, die mit einem Schlag das "Fuhrwerk" zum Verschwinden brachte.

Es setzte wieder eine Periode von mageren Jahren ein, an die ich mich noch gut erinnere und die die Auswanderung nach USA begünstigte.

Ein Taglöhner verdiente für einen Nachmittag von 1-7 Uhr 7 Batzen, die Frauen nur 6 Batzen. Bei den strengen "Werken" begann die Arbeit von morgens 4 oder 5 Uhr und wurde mit dem 1 ½-fachen Taglohn entschädigt. Zum Frühstück gab es Milchkaffee mit Rösti und Brot, zum Znüni musst man Mädern und Schnittern Wein, Brot und Käse geben. Zum Mittagessen gab es Suppe, Gemüse und Kartoffeln mit Speck, und wenn es hochkam, noch ein Glas Wein. Das z'Abig bestand, wie das Znüni, aus Brot und Wein, wobei pro Mann mit einer halben Mass (= 7 Deziliter) gerechnet werden musste. Das Nachtessen bestand aus Milchkaffee mit Brot und Geschwellten.

Nach Beendigung der grossen Arbeiten wurden die Taglöhner am Sonntag zum Mittagessen eingeladen. So gab es dann Fleischsuppe, grüne oder dürre Bohnen, Kartoffelstock, Schüfeli oder Hamme und das gekochte Rindfleisch. Dessert war nicht bekannt. Zur "Sichellöse", d.h. zur Einladung nach der Getreideernte musste meine Mutter einen ganzen Waschkorb voller "Gwallete Chüechli" (Fasnachtsschüechli) backen, von denen jeder Taglöhner einen Teller voll nach Hause mitnehmen konnte.

Ein Wort zu den damaligen Essgewohnheiten

in unserem Haushalt wurde Fleisch nur für den Sonntag hinzugekauft und gesotten auf den Tisch gebracht, dem Besuch wurde auch gebratenes Kalbfleisch aufgetragen. Im Garten pflanzte man Mangold (Chrut), Kabis und Kohl, Kohlraben, Karotten (Garten Rüebli), Lauch (als Suppeneinlage), Zwiebeln. Tomaten kannte man damals nicht, Blumenkohl und Randen wenig, Bohnen wurden grün und gedörrt gegessen.

Im Herbst wurde eine Stande voll Sauerkraut (Surchabis) eingemacht, die eingemachten Blätter vom Mangold nannte man "Surchrut". Das ist mir noch in lebhafter Erinnerung.

Im Sommer bestand unser Menu aus Speck, Salzkartoffeln und Gemüse, im Winter etwa Knöpfli und dürre Zwetschgen, Sauergemüse und Speck, oder manchmal Milchkaffee und Strübli. An den Brotbacktagen gab es "Dünne", je nach Jahreszeit Apfel-, Kirschen- oder Zwetschgenkuchen, im Winter auch Kartoffel- oder Zwiebelkuchen. Reis und Gries kam gelegentlich auch auf den Tisch, hingegen kein Mais. Man lebte einfach und so viel als möglich von den Produkten der eigenen Landwirtschaft.

Im Herbst, wenn die eigenen Fleischvorräte aufgegessen waren, liess man den Dorfmetzger kommen und schlachtete das fettere der beiden Schweine, das zweite dann erst nach Neujahr. An diesen Schlachttagen musste jedermann mitarbeiten. Nachdem das tote Schwein ausgenommen und zerlegt worden war, ging der Metzger an den Dorfbach, um die Därme zuzurichten.

Dann ging man an die Zubereitung der Würste: für die Blutwürste brauchte meine Mutter einen Kessel voll Milch und eine grosse Menge Zwiebelschweize. Für die Leberwürste hackte der Metzgergehilfe die Leber auf einem meterbreiten Metzgerstock mit einem Wiegenmesser, eine Arbeit, die 1-2 Stunden dauerte. Man machte auch Bratwürste, dann Magen- und Rauchwürste, z. T. aus Speck, Fleischabfällen und Schwarte, die im Rauchfang getrocknet und für später aufgespart wurden.

Die Arbeit gab Durst, man schenkte fleissig Wein ein. Von den Würsten wurden an Bedürftige und Taglöhner verschenkt, mit Nachbar Grossrats wurde die "Metzgete" regelmässig ausgetauscht.

Beim Abendessen des Schlachttages war die Speisenfolge aus alter Tradition festgelegt: zuerst eine gebrannte Mehlsuppe, in die die Milz hineingeschnetzelt wurde, dann kam der Bluthund (der mit Blutfüllung gefüllte Schweinsmagen) und die Leberwürste auf den Tisch, die mit Rösti und Apfelschnitzen gegessen wurden. Wer wollte, bekam noch Fleisch vom Hohrücken. Dabei floss der Wein, die Zungen lösten sich, es wurde politisiert und Neuigkeiten ausgetauscht.

Am folgenden Morgen mussten Küche und Wohnstube gesäubert werden, das Fleisch kam in die Beize, das anfallende Fett zerschnitt man und liess es aus. Alle mussten mithelfen.

Den Weihnachtsbaum kannte man in unserer Familie nur vom Hörensagen. Bei Grossrat Heubergers nebenan schmückte man einen für Olga. Dazu wurde ich eingeladen, wenn sich die beiden Familien nicht gerade in einer gegenseitigen Verstimmung befanden, was durch Kleinigkeiten ausgelöst werden konnte, wobei ich weder die eine noch die andere Familie in Schutz nehmen will.

Die neue Lehrerin führte dann etwa von 1882 an die Weihnachtsfeier in der Kirche ein, eine grosse geschmückte Tanne wurde im Chor aufgestellt und erhellte mit ihren Kerzen die Kirche. Die Schulkinder wirkten an der Feier mit und wurden nachher mit einer nützlichen Kleinigkeit beschenkt.

(Zur Kerzenbeleuchtung: elektrisches Licht sahen mein Vater und mein Bruder Gottlieb zum ersten Mal an der Landesausstellung 1883 in Zürich in Form einer kleinen Glühbirne).

Den Silvesterabend verbrachten die Männer unter sich bei einem Jass in einem Gasthof. Am Neujahrstag nahmen sie aber auch die Frauen mit, die jüngeren zum Tanz in den "Bären", die älteren trafen sich mit befreundeten Ehepaaren, Vater und Mutter z.B. mit "'Krämers" im Unterdorf. Alle paar Jahre kam eine Rössliriti ins Dorf, zur Freude der Kinder, oder Knie spannte das Seil beim Bären über die Strasse.

Die weitaus volkstümlichste Veranstaltung war der Vieh- und Warenmarkt, der im Frühjahr und Herbst stattfand. Seit 50 Jahren ist er aber eingegangen (also seit ca. 1900). Von der Schmiedenbrücke bis zum Bären waren beidseits der Strasse Marktstände aufgestellt, die von auswärtigen Händlern und Marktschreiern besetzt waren. Feilgehalten wurden Kleiderstoffe, Unterkleider, Wäsche, Hüte, Lappen etc. Regelmässig musste für mich ein Strohhut gekauft werden, der bis zum nächsten Frühjahr bei Spiel und Kampf mit den andern Dorfbuben wieder in Fetzen ging. Andere schätzenswerte Sachen waren Zuckerzeug, Haaröl und "Schmöckwasser".

Nach guten Weinjahren machten die Händler Geschäfte, nach schlechten Jahren waren ihre Verkäufe gering. Aber die beiden Kramläden des Dorfes hielten mit den Jahren alles feil, was von den Bewohnern gebraucht wurde, und zweimal im Jahr kam der Reisende von Gamper & Co aus Aarau und der "Baderjud" mit grossen Musterkollektionen ins Dorf. Strickgarn, Nähfaden etc. tauschten die Hausfrauen gegen Lumpen und Knochen beim "Lumpenvreni" ein, einer armen Hausiererin in Herznach, wo sie auch gleich die neuesten Nachrichten und Skandälchen erfuhren. Bändel brachte regelmässig der "Bändelijud" aus Baden.

Sämereien kaufte man für den Garten bei den "Umeträgern" aus dem Schwabenland, die regelmässig wie eine Uhr im Frühling mit einem Zwerchsack auf dem Rücken auftauchten, der ihre Ware barg. Die zerbrochenen Fensterscheiben flickte ein italienischer Glaser, der seinen Vorrat an Fensterglas in einer Chrätze auf dem Rücken mit sich trug. Ein anderer Italiener brachte im Frühling junge Hühner, "schöne geele Bei" rief er dazu aus.

Mit der Zeit gab es auch einen Bäcker im Dorf, der jeden Tag frisches Brot buk, und einen Metzger, der aufs Wochenende frisches Fleisch anbot. Einen guten Schuhmacher hatten wir in Hornussen. Als ich nach Aarau in die Kantonsschule kam, liess meine Mutter mir neue Kleider in Hornussen machen, später bei Gamper & Co in Aarau.

Auf diesen Seiten habe ich versucht, meinen Nachkommen ein Bild meiner Heimatgemeinde zu geben und ihnen zu zeigen, wie die Lebens- und Erwerbsmöglichkeiten im 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts dort waren, wie gearbeitet und geschmalbartet werden musste, um durchzukommen. Wirklich Arme gab es wenige, fast alle konnten sich eine Kuh oder doch zwei Geissen halten und hie und da ein Säuli schlachten. Aber auswärts waren leider sehr viele armengenössige Gemeindebürger, für die man regelmässig Armensteuer einziehen musste. Trinkerfamilien gab es zu meiner Zeit zwei, die aber rasch ausstarben.

Es ist wohl dem Einsatz von Kunstdünger zu verdanken, dass die Erträge aus Wiesen und Äckern besser wurden und die Leute es zu einem bescheidenen Wohlstand brachten. Auch die Gründung der landwirtschaftlichen Genossenschaften brachten viele Verbesserungen für die Bauern.

Die Gemeinde verfügt nur über einen geringen Waldbesitz, so dass die alljährliche Abgabe an jeden ansässigen Bözer Bürger, der "Burgerknebel" jeweils mager ausfällt."

Addendum

Karl Heubergers Aufzeichnungen zeigen ein Dorf im oberen Fricktal, das in seiner Jugend noch ganz im Zeichen der Landwirtschaft stand. Bekannt als das Armenhaus des Kantons Aargau, dauerte es bis Mitte des 20. Jahrhunderts, bis ein gewisser Wohlstand mit dem Wandel zur Industrialisierung spürbar wurde. Unter anderem suchte die chemische Industrie nach Ausweichstandorten wegen der räumlichen Enge im Stadtgebiet von Basel. Mit der Verlagerung ihrer Produktionsstandorte wurden zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen im Einzugsgebiet des Fricktals.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

de_DE
en_US de_DE